Wagenknechte! Ziehet das Trojanische Pferd nicht durch die Tore

Auf dem Parteitag der Linkspartei in Magdeburg wollten die unterschiedlichen Parteiflügel eigentlich darüber diskutieren, wie der Kuchen in Zeiten des Flüchtlingssterbens vor den Küsten Italiens und der griechischen Inseln verteilt werden solle. Eine ernsthafte Debatte wurde dann jäh dank eines Aktivisten in den Hintergrund gedrängt, der Sarah Wagenknecht zumindest in Magdeburg einen sehr großen Teil vom Kuchen zugestand. Obwohl führende Linken-GenossInnen die Aktion unisono verurteilten, konnte dies nicht über den Unmut weiter Teile der Partei mit den jüngsten Äußerungen Sarah Wagenknechts über Obergrenzen und die Kritik an einem u.a. von der SPD diskutierten Einwanderungsgesetz hinwegtäuschen. Wagenknecht und ihrem Lebensgefährten Lafontaine war vorgeworfen worden, dadurch, einen angeblichen Verteilungskonflikt zwischen einheimischen ArbeitnehmerInnen und Flüchtlingen zu problematisieren, in den Gewässern der AfD zu fischen, mit der wahrscheinlichen Konsequenz am Ende die RechtspopulistInnen zu stärken.

Konkret sagte die Linken-Politikerin dem „Redaktions-Netzwerk Deutschland“: „Deutschland braucht kein Einwanderungsgesetz, sondern eine Wiederherstellung des Sozialstaats. In einer Gesellschaft, die sozial zerfällt und in der die Ungleichheit immer weiter wächst, kann auch keine Integration gelingen.“ Außerdem sei der primäre Effekt eines Einwanderungsgesetzes unter heutigen Bedingungen, die Lohnkonkurrenz zu verschärfen und den Unternehmen Lohndumping zusätzlich zu erleichtern, so Wagenknecht weiter.

Ein solches Argument aus dem Halse einer Linken-Politikerin wirkt schief wie eine Torticollis, weil die Nuancierung „unter heutigen Bedingungen“ höchstwahrscheinlich am Ende nicht in der Öffentlichkeit hängen bleiben wird, sondern bloß die vermeintliche Kausalkette „mehr Zuwanderung gleich mehr Lohndumping“. Bei dieser Annahme handelt es sich bei genauer Betrachtung um keine gültige Schlussfolgerung und auf gar keinen Fall um ein linkes Argument. Die Argumentation ist vielmehr ein Trojanisches Pferd der Neuen Rechten, um im ArbeitnehmerInnenmilieu zu wildern und diejenigen, die eine äneische Flucht auf sich nahmen, zu instrumentalisieren um die politische Linke zugunsten der extremen Rechten zu schwächen. Der Philosoph, Vordenker der französischen Neuen Rechten und Vorsitzende des identitären Think Tanks „GRECE“ (Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne, <> Paris) Alain de Benoist hatte 2011 in einem Artikel die Immigration als die industrielle Reservearmee des Kapital bezeichnet (L’immigration: L’armee reserve du capital). In der Überschrift übernimmt er die Metapher der „Industriellen Reservearmee“ aus Karl Marx‘ erstem Band des Kapitals. Sie fügt sich nahtlos in die neuerliche Querfrontstrategie des Front National ein, durch die Übernahme protektionistischer Elemente aus dem wirtschaftspolitischen Programm der KPF (Kommunistische Partei Frankreichs) der 1980er Jahre in den nicht-migrantischen ArbeitnehmerInnenmilieus zu fischen. Die Behauptung, Zuwanderung führe zwangsläufig zu Lohndumping fand schließlich Eingang in das Programm des FN.

Dass die xenophobe Auslegung der Marx’schen Metapher der Industriellen Reservearmee weder auf der Theorieebene noch in der praktischen Politik haltbar ist, lässt sich allerdings schon durch einen Blick in das Original selbst werfen. Dort heißt es:

„Im großen und ganzen sind die allgemeinen Bewegungen des Arbeitslohns ausschließlich reguliert durch die Expansion und Kontraktion der industriellen Reservearmee, welche dem Periodenwechsel des industriellen Zyklus entsprechen. Sie sind also nicht bestimmt durch die Bewegung der absoluten Anzahl der Arbeiterbevölkerung, sondern durch das wechselnde Verhältnis, worin die Arbeiterklasse in aktive Armee und Reservearmee zerfällt, durch die Zunahme und Abnahme des relativen Umfangs der Übervölkerung, durch den Grad, worin sie bald absorbiert, bald wieder freigesetzt wird“, durch den Grad, worin sie bald absorbiert, bald wieder freigesetzt wird. Für die moderne Industrie mit ihrem zehnjährigen Zyklus und seinen periodischen Phasen, die außerdem im Fortgang der Akkumulation durch stets rascher aufeinander folgende unregelmäßige Oszillationen durchkreuzt werden, wäre es in der Tat ein schönes Gesetz, welches die Nachfrage und Zufuhr von Arbeit nicht durch die Expansion und Kontraktion des Kapitals, also nach seinen jedesmaligen Verwertungsbedürfnissen regelte, so daß der Arbeitsmarkt bald relativ untervoll erscheint, weil das Kapital sich expandiert, bald wieder übervoll, weil es sich kontrahiert, sondern umgekehrt die Bewegung des Kapitals von der absoluten Bewegung der Bevölkerungsmenge abhängig machte.“ (Karl Marx, MEW 23, 666).

Im zitierten Abschnitt wird schlüssig beschrieben, dass erstens nicht die absolute Zahl, sondern nur die relative Expansions- und Kontraktionsdynamik infolge des Konjunkturzyklus die Zahl der Arbeitslosigkeit bestimmen und ansonsten noch die Möglichkeit der gesteuerten Kapitalexpansion bei expansiver Bevölkerungsentwicklung besteht, ein Vorgriff auf keynesianische Vorstellungen von staatlichen Investitionen und öffentlicher Beschäftigungspolitik im konjunkturellen Abschwung. Das von Marx im Folgeabsatz erwähnte Risiko, dass sodann „infolge der Kapitalakkumulation der Arbeitslohn [stiege und] der erhöhte Arbeitslohn zur rascheren Vermehrung der Arbeiterbevölkerung [ansporne], und diese [fortdauere], bis der Arbeitsmarkt überfüllt [sei], also das Kapital relativ zur Arbeiterzufuhr unzureichend geworden [sei], kann man auf Basis empirischer Beobachtungen des demographischen Wandels bei steigendem Wohlstand aus der Gegenwartsperspektive leicht abräumen (vgl. ebd. 666).

Wie gefährlich es für die Linke ist, diesem offensichtlich von rechtspopulistischen Kreisen in die Welt gesetzten Trojanischen Pferd bloß in der Hoffnung auf ein paar potenzielle Proteststimmen entgegen zu kommen, anstatt selbstbewusst die Gegenargumentation aufzunehmen, haben die Erfahrungen von Aufstieg und Niedergang einerseits der KPF und andererseits des Front National in Frankreich gezeigt. Auch der frühere KPF-Vorsitzende George Marchais war 1981 für kurze Zeit der „zuwanderungskritischen“ Rhetorik verfallen, nur um danach wieder zurückzurudern, um schließlich beobachten zu müssen, wie das Übel der Fremdenfeindlichkeit danach nicht mehr zurück in die Büchse der Pandora zu bekommen war. Die Konsequenzen in Gestalt aktueller Umfragewerte des Front National kennen wir im Jahre 2016 zur Genüge.

 

Chris O. King studiert internationale Politische Ökonomie in Leeds.

Foto: Jürgen Rutsatz  / pixelio.de

TTIP: Warum wir weiter verhandeln müssen

Autor: Jannes Tilicke

Ich bin grundsätzlich für Freihandel, weil ich möchte, dass der Welthandel feste Regeln bekommt. Die Macht der VerbraucherIn endet nämlich dort, wo sie sich gegen genmanipulierte Lebensmittel oder Produkte aus Kinderarbeit wehren muss. Sowohl eine Abschottung vor diesen Problemen, der sogenannte Protektionismus, als auch eine neoliberale Deregulierung stellen in einer globalisierten Welt keine ernsthaften Alternativen dar. Denn ersteres will die Probleme der Welt nicht sehen und zweiteres verschärft sie nur.

Deshalb verstehe ich die Haltung der „Stopp TTIP“ Kampagne auch nicht. Da wird trotz aller Chancen gefordert, dass die Verhandlungen so schnell als möglich abgebrochen werden sollen. Fast so, als würde man durch das bloße Miteinander Sprechen bereits ein Risiko eingehen. Über zwei Jahrzehnte streitet beispielsweise die europäische Linke für mehr Regulierung in der Finanzwirtschaft, aber in dem Moment, wo sie endlich die Möglichkeit dazu erhält, indem sich die europäische Union und die USA auf feste Regeln einigen, bekommt sie kalte Füße.

Ursache dafür ist sicher ein generelles Misstrauen in das politische System, dass es versäumt hat, in den letzten Jahren konsequent für mehr wirtschaftliche Regulierung zu sorgen. Teilweise mit antiamerikanischen Unterton wird davor gewarnt, dass am Ende Wirtschaftsinteressen über denen der Bürgerinnen und Bürger stehen.

Sicher hätte ich mir auch ein anderes, Strukturierungsinstrumentarium als einen bilateralen Handelsvertrag gewünscht, der so mächtig sein wird, dass am Ende alle anderen Staaten ihn als eigene Handelsgrundlage anerkennen. Da gibt es demokratischere Verfahren, aber sind wir doch mal ehrlich: Wenn sich die EU und USA in zwei Jahren nicht auf gemeinsame Standards einigen können, wie soll das erst werden, wenn knapp zweihundert Staaten an einem Tisch sitzen? Weder WTO noch OECD haben dieses Kunststück in den vergangenen Jahrzehnten geschafft.

Und sicher, ich hätte mir auch mehr Transparenz in den Verhandlungen gewünscht. Aber wer zwei Jahre lang verhandelt, der wird seine eigenen Standards nicht einfach so einfach Preis geben. Etwas anderes zeigen die veröffentlichten Papiere von Greenpeace auch nicht, außer dass beide Seiten sich für ihre jeweiligen Interessen einsetzen. Das ist doch eine sehr natürlich Verhandlungsstrategie. Alles andere würde mich wundern.

Was mich allerdings wirklich stutzig macht an den veröffentlichen Dokumenten ist der Zeitpunkt. Da wird Aufregung um TTIP, ein Abkommen, das längst noch nicht zur Entscheidung ansteht, geschürt. Obwohl mit CETA ein ähnliches Abkommen noch in diesem Herbst die europäischen Hürden nehmen soll. Ein fertiger englischer Text steht seit Ende Februar öffentlich zur Verfügung und eine deutsche Übersetzung ist in Arbeit. Doch das scheint zu unspektakulär für Greenpeace. Denn CETA räumt mit vielen Befürchtungen gegen Freihandel auf: So gibt es klare Regeln für Schiedsgerichte, Marktzugangsklagen sind ausgeschlossen und auch die Rechte von Briefkastenfirmen werden eingeschränkt.

Ich würde mir daher mehr Mut in der Diskussion wünschen. Vielleicht können wir statt uns immer nur darüber zu unterhalten, dass Abkommen verhindert werden sollen, auch einmal unsere Erwartungen an den Welthandel formulieren. Beispielsweise, dass er Frieden sichert oder Arbeitsstandards festschreibt. Ich möchte, dass Kinderarbeit lieber heute als morgen beenden. Handel sollte Wohlstand mehren, diesen aber gerecht verteilen. Regionale Produkte sollten nicht vom Markt verdrängt werden. Und ich möchte vor allem beim Thema Umweltschutz mitsprechen dürfen. Also kurzgefasst will ich demokratiekonforme Märkte weltweit.

Gerade Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten müssen sich deshalb der schwierigen Bewährungsprobe stellen und versuchen die TTIP-Verhandlungen zu Ende zu führen, weil sie als erste einen Anspruchskatalog an Welthandel formuliert hat. Im Hamburger Grundsatzprogramm heißt es: „Der Welthandel bringt vielen Menschen neue Arbeit und Wohlstand. Zugleich aber prägt den globalen Kapitalismus ein Mangel an Demokratie und Gerechtigkeit. So steht er dem Ziel einer freien und solidarischen Welt entgegen. Er verschärft alte Ungerechtigkeiten und schafft neue. Deshalb kämpfen wir für eine Politik, die im eigenen Land, in Europa und in der Welt eine soziale Antwort auf den globalen Kapitalismus formuliert.“

Und so muss die Sozialdemokratie am Ende eventuell auch den Mut aufbringen „Nein“ zum Ergebnis der Verhandlungen zu sagen, wenn diese eben keine sozialen Antworten formulieren. Aber sie sollte gleichzeitig im Hinterkopf behalten, dass ein Scheitern des Abkommens dazu führt, dass andere Handelsverträge den Weltstandard bestimmen. Dort werden soziale und ökologische Standards mit hoher Wahrscheinlichkeit aber nicht priorisiert werden. Und genauso schlecht wie ein mies verhandeltes bilaterales Handelsabkommen ist der Status Quo, welcher die weltweiten Ungerechtigkeiten nur verschärft.

 

Jannes Tilicke studiert Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Bielefeld und ist Mitglied des Stadtrats Minden.

Foto: low500  / pixelio.de

Hart und unfair bei der FAZ: „Böse Italiener“ statt Umverteilung

Autor: Chris O. King

Gestern (22.03.2016) gab es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gleich ein Doppelbeispiel von wenig verantwortungsbewussten journalistischen Verhaltensweisen, die für das Vertrauen in die dort thematisierten öffentlichen Institutionen nicht gerade förderlich sind. Es geht um zwei Artikel, die auf der Facebook-Seite der FAZ mit den Überschriften „Einkommensunterschiede schaden nicht und „Die Deutschen leiden unter der Nullzinspolitik der EZB

Bei ersterem geht es um eine vom arbeitgebernahen IW (Institut der deutschen Wirtschaft) kritisierte OECD-Studie, laut der Einkommensungleichheit das Wirtschaftswachstum behindere. Die Schlussfolgerungen der OECD-Studie waren kürzlich durch Marcel Fratzscher vom DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) in der Öffentlichkeit thematisiert worden, wohingegen das Fratzscher die Einschätzungen der OECD unterstrich. Der zweite Artikel stammt aus dem Feuilleton und fasst die Ergebnisse einer Talk-Runde bei Frank Plasbergs „Hart, aber fair“.

Da die JournalistInnen bei der FAZ mitnichten Amateure sind, kam ein Facebook-Kommentator im Thread unter dem Artikel auch süffisant zu der Schlussfolgerung, dass das IW „Hand in Hand mit der FAZ im Gegensatz zu den lohnabhängig Beschäftigten in diesem Land noch einen ganz klaren Klassenstandpunkt“ vertrete“. Good cop, bad cop! Die tiefer im Artikel zitierte IW-Studie, besagt nämlich allenfalls, dass es methodische Probleme gebe, welche die Schlussfolgerung von OECD und DIW, Ungleichheit hemme in Deutschland das Wirtschaftswachstum, nicht erlaube. Dass etwas aus methodischen Gründen nicht belegbar ist, impliziert nicht automatisch, dass etwas deshalb nicht so ist, wie es durch die FAZ mit der Artikel-Überschrift suggeriert wird.

Noch problematischer ist der zweite Artikel zur EZB. Die Wahl der Überschrift ist hier gerade deshalb so fragwürdig, weil mit der Gültigkeit der Aussage durch Zitate im nachfolgenden Artikel im Prinzip bereits aufgeräumt wird, wie die folgenden beiden Passagen aus dem Artikel illustrieren:

1. Die Kreditnachfrage, so [der als Talk-Gast geladene Hauptgeschäftsführer des „Bundesverbandes deutscher Banken“ Michael, DP] Kemmer, steht in keinem Verhältnis zu den liquiden Mitteln. Deshalb bewegen wir uns am Rande der Deflation, die diemit einer expansiven Geldpolitik zu verhindern versucht.

2. Man hätte von den Eltern und Großeltern des jungen Plasberg erfahren können, was ein solcher Bankrott gerade in Deutschland bedeutet hätte. Daran muss man heute erinnern, wenn über die Zinspolitik des „bösen Italieners“ lamentiert wird. So nannte [der als Talk-Gast geladene ehemalige Investment-Banker Rainer] Voss ironisch den EZB-Präsidenten Mario Draghi [in Bezug auf die Alternative eines Zusammenbruchs des Finanzsystems, DP]. Er machte ansonsten noch eine interessante Anmerkung über den kulturellen Wandel, den moderne Finanzexperten immer noch für den richtigen Weg halten. Voss glaubt nicht, dass wir es „mit einem systemischen Problem zu tun haben.“ Dieses wäre vielmehr „ein Gesellschaftliches, das zwischen 1998 und 2001 entstand.““

Hintergrund: Spätestens im Jahre 1999 war in Deutschland klar, dass das Paradigma der Angebotspolitik nun nicht mehr nur im wirtschaftsliberalen Flügel von CDU und FDP zu verorten war, sondern bis weit in die damals regierende rot-grüne Koalition mehrheitsfähig geworden war. Nach dem Rücktritt des damaligen Finanzministers Oskar Lafontaine und seines Staatssekretärs Heiner Flassbeck, die ihre Plätze für die als eher wirtschaftsliberal geltenden Nachfolger Hans Eichel und Jörg Asmussen räumen mussten, war der Weg frei für eine Kombination aus Deregulierung, Sparmaßnahmen und angebotsseitig ausgerichteten Absenkungen der Einkommenssteuern.

Die ökonomische Begründung für eine solche angebotsseitige Politik liegt in der sogenannten „Crowding Out-These“, der zufolge staatliche Maßnahmen zur Nachfragestimulierung eine Erhöhung des Zinsniveaus bewirkten, welches auf der anderen Seite private Investitionen hemme. Deshalb seien gemäß der angebotsseitigen Logik Maßnahmen zu ergreifen, die den Staatskonsum reduzieren und die Sparquote erhöhen, damit durch das höhere Angebot günstiger Liquidität die privaten Investitionen ansteigen.

Steigt aber aus unerfindlichen Gründen die Kreditnachfrage dennoch nicht an und ist die Liquidität dank der angebotsseitigen Politik hoch, kann der von Michael Kemmer beschriebene Effekt eintreten (siehe Passage 1.), welcher allerdings nicht nur VerliererInnen, sondern auch GewinnerInnen hat. Es kommt zum Beispiel durch das billige Geld zu steigenden Immobilien- und Aktienkursen. Der Kampf von Teilen der SPD, Teilen der Grünen und der Linken, in den letzten Jahren der Öffentlichkeit den Nutzen von höheren Staatsausgaben und gegebenenfalls auch höheren Spitzensteuersätzen plausibel machen, zeigt jedenfalls, dass die Angebotspolitik offensichtlich immer noch mehrheitsfähig ist. Eine kurze Wende zur Nachfragepolitik gab es lediglich 2008/09 mit dem Konjunkturpaket 2. Wie auch immer: Für beide Optionen lässt sich durchaus plausibel argumentieren und beides hat Vor- und Nachteil für unterschiedliche Gruppen in der Bevölkerung.

Eine unsaubere Argumentation ist es allerdings, wenn man auf der einen Seite vehement für angebotsseitige Steuer- und Fiskalpolitik eintritt, die Vorteile für sich einstreicht, und für die Kehrseite der Angebotspolitik in Form geringer Renditen auf Riester-Verträge und kapitalgedeckte Lebensversicherungen, die EZB oder gar den „bösen Italiener“ Draghi persönlich verantwortlich macht. Und das in einer Zeit, in der ausländerfeindliche und antieuropäische Ressentiments sich zunehmend bis in die Mitte in der Gesellschaft ausbreiten.

Leider gehen die gewählten EZB- und umverteilungskritischen Unterschriften der beiden im Abstand von nur zwei Stunden erschienenen FAZ-Artikel genau in eine solche Richtung. Schade, um die sonst interessanten Beiträge.

Chris O. King studiert internationale Politische Ökonomie in Leeds.

Game of Thrones – Über ein heiteres Spiel der popkulturellen Verwertung

 

Autor: Kolya Komusin

Es sind alle fünf Staffeln der Fernsehserie und die bisher fünf erschienenen Bücher (in der deutschsprachigen Übersetzung sind es derer zehn) zu kennen, sonst wirst du gespoilert. Interessiert dich Game of Thrones oder das Lied von Eis und Feuer (so der Titel für die Buchreihe) nicht, hast du jetzt schon genug Zeit mit dem Lesen verbracht, um auch gleich damit weitermachen zu dürfen.

Über die fünfte Staffel

Die schon im Vorfeld von Fans sowohl der Bücher, als auch der Fernsehserie mit großer Spannung erwartete fünfte Staffel hatte es von Anfang an nicht leicht: Die Buchfraktion machte sich große Sorgen über die zu erwartende Qualität, da die Serie sich ab dieser Staffel teilweise gänzlich von den Büchern entfernt und manche der unzähligen Storylines denen der Bücher mit den neuen Folgen voraus sein würden und nur noch lose auf dem Werk von Autor George R R Martin basieren. Die Game of Thrones-Fans fanden ihre Sorgen eher darin begründet, von den Buchlesern, noch massiver als sonst genervt zu werden, da jede Abweichung, Zusammenfassung oder Streichung der Vorlage als Sakrileg behandelt wird.

Es stellte sich heraus, dass die fünfte Staffel, im Gesamten, die schwächste der bisherigen ist, jedoch auch einige der besten Szenen der Serie vorzeigen konnte.

Das ganze Produkt ist also erfreulich zwiespältig geraten.

Als Leser der Bücher war ich natürlich sehr gespannt auf die Umsetzung der Sandsnakes und die Darstellung des südlichsten Königreiches Dorne. Sich darauf zu freuen, war wohl die erste Enttäuschung überhaupt, die mir die Serie bereitete und für Fans der Vorlage schon kurios lieblos umgesetzt, im Vergleich zu anderen wichtigen Figuren und Orten der Handlung.

Gerade nach der grandiosen Inszenierung und Darstellung des Oberyn Martell in der vierten Staffel, ist es nur mit Staunen zu ertragen, wie seine kampferprobten und findigen Bastardtöchter zu einem Haufen naiver, passiver und grottig gespielter Blickfänge, für den eher voyeuristschen Teil der Zuschauerschaft degradiert wurde. Dorne selbst macht den Eindruck einer lieblos hergerichteten Pappkulisse, welche zu dem auch noch leblos und fast statistenfrei daher kommt. Einzig der Figur des Doran Martell sind ein, zwei akzeptable Momente geblieben, wobei auch hier wenig zu gewinnen war: Ein derart widersprüchlicher Charakter wie der Fürst von Dorne kann schlechter Dinge in vier kurzen Auftritten befriedigend dargestellt werden.

Dies ist auch schon das absolute Negativbeispiel der fünften Staffel und zeugt davon, dass die AutorInnen der Serie nun doch nicht durchgängig die Qualität halten können, wenn sie sich, wie bei Dorne, massiv von der Vorlage entfernen.

Eine andere große Abweichung zu den Büchern stellt der Part von Tyrion dar, welcher im Gegensatz zu den Büchern schon bei Dany angelangt ist. Hier haben die Autoren großes Geschick bewiesen und den unendlich nervigen Sidekick Tyrions auf seiner Reise in den Osten komplett gestrichen und dürften damit allen einen gefallen getan haben, ihm stattdessen, um einiges früher, Jorah Mormont an die Seite gestellt.

Es erübrigt sich zu schreiben, dass jede Szene mit Tyrion ein Genuss ist, dank der Fernsehserie und ihrer massiven Abweichung von der Vorlage (Hella ist aber nun auch die einzig unpassende und nervige Figur in den Büchern bisher gewesen).

Ebenso bekam der Buchleser bei Jons Part etwas gespoilert und zwar in Form einer der besten Szenen der ganzen Serie: Der Überfall der weißen Wanderer auf die Wildlinge. In der fünften Staffel wurde endlich das Versprechen, welches seit der ersten Folge immer wieder bekundet wird, eingelöst: Winter ist Coming.

Da diese Szene seit Beginn an zu erwarten war und dann so prächtig daherkommt, war sie eines der Highlights sowohl der fünften Staffel, als auch der ganzen Serie.

Zu Jon gibt es an dieser Stelle nicht viel mehr zu sagen, außer dieser einen Hoffnung: Melissandre hat hoffentlich von Moros von Tyr (der aufmerksame Zuschauer erinnert sich) gelernt, wie das mit der Wiederauferstehung zu bewerkstelligen ist.

Um die Zwiespältigkeit dieser Staffel darzustellen soll dies genügen, um den Rahmen zu schonen. Zu allem ließe sich mehr erzählen, hinzu wäre alleine der Storypart von Stannis (praktisch ein personifiziertes Best Of der dramatischen Protagonisten Shakespeares, wunderbar zynisch dargestellt), Cersei und Arya einer eigenen Betrachtung wert.

Über die Skandale

Jede Folge dieser Serie bekommt in allen bekannten Medienformen ein Recap (dieses Modewort für Reszension): Von Youtubern über „Die Zeit“ bis hin zur „New York Times“ wird jede Folge und jede Staffel seziert und oft genug skandalisiert.

Wer auch nur einen Skandal für bare Münze nimmt, sollte sich nochmal mit der Verwertungslogik der Popkultur beschäftigen. Game of Thrones hat das große Glück, einhellig gemocht zu werden vom Feuilleton, über die Fans bishin zum Gelegenheitszuschauer.

Doch was wird da zehn Wochen lang, ab Anfang April skandalisiert ?

Am verständlichsten dürfte das muntere und keinesfalls erfreuliche Sterben der Hauptfiguren und Sympathieträger der Serie durchgehen. Das macht auch einen großen Reiz der Serie aus, da alles unsicher bleibt und praktisch jede Folge die letzte für einen Protagonisten sein kann. Es ließe sich jetzt wetten, dass Martin sich jedoch in keiner Variante jemals an Tyrion herantrauen wird (wenn es nicht gerade die letzte Folge sein sollte). Mittlerweile sind auch nur noch der Lannistersprößling und Dany als halbwegs moralisch handelnde Figuren mit Fanpotential übrig geblieben und die Kritiker machen sich Sorgen, mit wem sie noch mitfiebern sollen, wenn alle eher als gut geltenden Figuren so bitter das Zeitliche segnen müssen.

Diese Kritik ist durchaus berechtigt und hier darf man gespannt sein, wie mit den übrigen Figuren verfahren wird. Hier hat es die Serie um einiges schwerer als die Bücher, in diesen gibt es noch zu Hauf Charaktere, welchen man als Leser gerne folgt.

Es stellt sich auch die Frage, ob auch nur irgendeine Gestalt betrauernswert ist, in der Welt von Eis und Feuer. Sieht man sich das strickt patriarchalische Wesen und zutiefst der Vergangenheit zugewandte Haus der Starks an, ist es abgesehen von ihrer nachvollziehbar gemachten Moral, nur der Grund, dass sie auf ehrliche Spielregeln setzen, was ihre Sympathie ausmacht.

Selbst das im Vergleich dazu fortschrittliche Dorne sucht nur nach Macht für ihre Erbmonarchie. Die einzige Figur, um die es ernsthaft zu trauern gilt – sollte es denn soweit kommen – wäre Daeyenarys, welche zumindest versucht Egalität und Fortschritt in die Welt zu bringen, jedoch scheint ihr der friedliche Weg auch immer weniger zur Genüge zu kommen.

In Westeros und auf den anderen Kontinenten bekämpft sich ein Übel stetig mit einer anderen Pest, wie dies auch Martin bewußt ist: „There are no heroes…in life, the monsters win.“ Das ganze Werk ist in einer feudalen Welt angesiedelt, deswegen haben wir es hier jedesmal mit einem künstlichen Skandal zu tun, wenn erwartet wird, dass sich die Figuren doch bitte schön wie liberale Bürger der westlichen Industriestaaten zu verhalten hätten.

Die gezeigte Brutalität der Serie entsptringt ihrem Setting und dem hohen Budget und dürfte nichts anderes als den Sehgewohnheiten eines heutigen Filmkonsumenten zu Pass kommen. Hinzu erhöht es jedesmal die Aufregung, wenn auf grausamste Art einer der Hauptprotagonisten das Zeitliche segnet. Die Doppelmoral einiger Kritiker findet sich in dem Widerspruch, wenn mit Zufriedenheit über die grausamen Tode eines eher unbeliebten Charakters fabuliert wird.

Sowohl der Serie als auch den Bücher mangelt es nicht an expliziter Darstellung von Sex. Dazu hat der Autor vom Lied von Eis und Feuer noch die unterhaltsamste Meinung: „I can describe an axe entering a human skull in great explicit detail and no one will blink twice at it. I provide a similar description, just as detailed, of a penis entering a vagina, and I get letters about it and people swearing off. To my mind this is kind of frustrating, it’s madness. Ultimately, in the history of [the] world, penises entering vaginas have given a lot of people a lot of pleasure; axes entering skulls, well, not so much.“

Jedoch wird die Serie für diese Darstellungen oft kritisiert, gerade wenn sich die Paare nicht einvernehmlich zusammenfinden, da dies in den Büchern, wie auf dem Bildschirm kein singuläres Ereignis ist, bleibt die Frage nach der Notwendigkeit solcher Szenen natürlich bestehen, auch oder gerade wegen ihrer dramaturgische Verankerung im Storytelling. Dies wird dann zu einer äußerst nachvollziehbaren Skandaliserung, gerade da die fünfte Staffel in mehreren Szenen die Protagonistinnen zur Fleischbeschau der Kamera degradiert. Dies geschieht seit der ersten Folge, zumeist sind auch Männer dabei nackt zu sehen. Beides sind natürlich bewusst inszenierte Fälle um die entsprechende Aufmerksamkeit und den entscheidenden Werbeeffekt zu erzielen.

Darüber, ob die Bücher oder die Serie nun eher liberal oder frauenverachtend mit seinen Figuren umgeht, bedarf es noch einer eigenen Abhandlung, gerade da einige weibliche Charaktere das Geschehen in der Story klar mitbestimmen. Es trifft zumindest die Kritik zu, dass eine moderne Serie, trotz ihres feudalen Settings, einer zeitgemäßen Verantwortung in der Inszenierung seiner Gewalt nachkommen muss. Es gibt zumindest für beide Sichtweisen gute Argumente und beides wird wahrscheinlich bewusst von den Machern der Serie so verkauft. Auch hierauf hat Martin eine nicht ganz unpassende Antwort gefunden: „It is one thing to be clever and another to be wise.“

Ein Wort zur deutschsprachigen Synchronisation der Fernsehserie: Grauenhaft!

Es ist wirklich zu empfehlen, die Serie bei Möglichkeit im englischsprachigen Original zu genießen. Hier sei allerdings auch in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen die Untertitel zu aktivieren: Als nicht Muttersprachler geht einem sonst viel Inhalt verloren.

In wenigen Wochen kommt die große Unbekannte, die sechste Staffel von Game of Thrones. Hier wird wohl endgültig der Bruch zwischen Umsetzung und Vorlage erfolgen.

Die Verantwortlichen der Serie sagen jetzt schon, dass die neuen Folgen die besten sind, die sie bisher gemacht haben. Was bleibt ihnen auch anderes übrig als eben dies zu behaupten? Die Neugier ist bei den Fans so oder so vorhanden.

Problematisch ist nun jedoch, dass die Serie sehr viel mehr Story von den Büchern vorwegnehmen kann, als die bisherigen Staffeln, da der sechste Band vom Lied von Eis und Feuer noch auf sich warten lässt.

Martin hat schon angekündigt, dass ein Storytwist im kommenden Buch, in der Serie gar nicht mehr umsetzbar ist, da ein darin involvierter Charakter auf dem Bildschirm schon ums Leben gekommen ist.

Ob das eine mit dem anderen noch zu tun hat, wird sich wohl erst klären können, sobald die sechste Staffel gesehen, als auch der sechste Band gelesen ist.

Doch womit anfangen?

Menschen, die nur ein Medium verfolgen, haben eine entschieden entspanntere Zeit vor sich.

Erst das Buch lesen (was noch einiges an Geduld bis zur Veröffentlichung erfordert) oder doch schon die Serie schauen?

Zum Abschluss nochmal ein Zitat von Martin, mit welchem er verdeutlicht, was er eigentlich versucht zu bezwecken mit seinem Werk:

„The best fantasy is written in the language of dreams. It is alive as dreams are alive, more real than real … for a moment at least … that long magic moment before we wake.

Fantasy is silver and scarlet, indigo and azure, obsidian veined with gold and lapis lazuli. Reality is plywood and plastic, done up in mud brown and olive drab. Fantasy tastes of habaneros and honey, cinnamon and cloves, rare red meat and wines as sweet as summer. Reality is beans and tofu, and ashes at the end. Reality is the strip malls of Burbank, the smokestacks of Cleveland, a parking garage in Newark. Fantasy is the towers of Minas Tirith, the ancient stones of Gormenghast, the halls of Camelot. Fantasy flies on the wings of Icarus, reality on Southwest Airlines. Why do our dreams become so much smaller when they finally come true?

We read fantasy to find the colors again, I think. To taste strong spices and hear the songs the sirens sang. There is something old and true in fantasy that speaks to something deep within us, to the child who dreamt that one day he would hunt the forests of the night, and feast beneath the hollow hills, and find a love to last forever somewhere south of Oz and north of Shangri-La.

They can keep their heaven. When I die, I’d sooner go to middle Earth.“

 

Kolya Komusin ist Erzieher, Student und Hobbyveranstalter. Lebt und arbeitet in Minden, hin und wieder auch beim Studieren in Bielefeld anzutreffen. Verbringt seine Zeit mit Büchern, die er manchmal auch liest. Pflegt die Hingabe ans Veranstalten mit völlig unbekannten Bands und Künstlern. Zweifelt an allem und begrüßt die angewandte Subjektivität.

„Daran zerbrechen Gesellschaften“

Ein Interview mit Reinhold Trinius

Autor: Micha Heitkamp

Reinhold Trinius, Jahrgang 1934, saß von 1970 bis 2000 für die SPD im nordrhein-westfälischen Landtag. 15 Jahre lang war er stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Heute wohnt er mit seiner Frau in Porta Westfalica.

Reinhold, du hast in einer E-Mail an den Kreisvorstand der SPD deine Erschütterung über die humanitäre Katastrophe, die wir gerade in der Ägäis erleben, zum Ausdruck gebracht. Wie soll es da weitergehen?

Wir dürfen auf keinen Fall die flüchtenden Menschen und auch nicht Griechenland alleine lassen. Ein Land wie Deutschland muss doch in der Lage dazu sein, humanitäre Hilfe zu leisten. Es geht darum, diejenigen da raus zu holen, die die Hilfe am meisten brauchen. Also vor allem Familien mit Kindern.

Was stellst du dir konkret vor?

Deutschland könnte Schiffe entsenden und 2000 oder auch 4000 Menschen einfach abholen. Damit würde man der unzumutbaren Belastung Griechenlands etwas entgegen wirken. Gegenwärtig setzen Staaten das Elend der Flüchtlinge als Druckmittel ein. Das führt zu keiner Lösung, nur zu noch mehr Elend. Vom „Zahlen reduzieren“ zu reden, ist der falsche Ausdruck. So wird der sinkende Zustrom ins eigene Land als Erfolg verkauft, obwohl wir genau wissen, welchen verabscheuungswürdigen Mitteln wir das verdanken.

Deutschland soll also handeln, auch wenn nicht ganz Europa mitzieht?

Es geht jetzt darum, sofort und ohne Umwege zu handeln. Als das Dublin-Abkommen noch galt, hat Deutschland sich in der Mitte Europas ausgeruht und den Süden alleine gelassen. Wenn wir jetzt sichtbar und erfolgreich helfen, beeinflussen wir damit doch auch die öffentliche Meinung in Europa. Diese Chance sollten wir beherzt ergreifen.

Du hast selbst viel Erfahrung mit Bildungspolitik. Wie kann es im Bereich Bildung gelingen, so viele Menschen in die deutsche Gesellschaft zu integrieren?

Auch da ist es wichtig, jetzt und sofort anzufangen. Das geht dann auch stark nach dem Prinzip learning by doing. Wir können nicht erst warten bis die Hochschulen neue integrations-pädagogische Lehrstühle eingerichtet haben. In der Medizin muss ein Arzt im Ernstfall auch eine Therapie beginnen ohne die gesamte Diagnose zu kennen. Das erfordert wahnsinnig viel Mut. Aber wenn es klappt, macht das auch neuen Mut.

Wie siehst du den Rechtsruck, der gerade durch die Gesellschaft geht?

Das war leider lange abzusehen. Nehmen wir beispielsweise Martin Walser, dessen Bücher nicht frei von antisemitische Klischees sind. Als Walser 1998 in seiner berühmten Rede in der Frankfurter Paulskirche Auschwitz als „Moralkeule“ bezeichnete, standen die Leute – mit Ausnahme von Ignatz Bubis, seiner Frau Ida und Friedrich Schorlemer – begeistert applaudierend auf. Unter der Oberfläche hat sich immer etwas gehalten, was jetzt wieder zum Vorschein kommt. Schon 1992 in Rostock-Lichtenhagen war es eine Katastrophe für die Gesellschaft, dass die Polizei einfach zugeschaut hat. Und heute, etwa in Clausnitz, schaut die Polizei wieder viel zu oft zu.

Gibt es denn etwas, das dir Hoffnung macht?

Es gibt so viele Menschen in Deutschland, die sich für geflüchtete Menschen einsetzen. Das ist der Schatz, mit dem wir wuchern können. Diese Menschen muss auch die SPD wieder verstärkt ansprechen. Da vermisse ich bei meiner Partei etwas Führung.

Du sprichst die Schwäche der SPD an. In den Umfragen kommt die Partei einfach nicht vom Fleck. Woran sollte sie sich orientieren, damit es wieder bergauf geht?

Die SPD-Grundwertekommission unter Leitung von Gesine Schwan hat im Januar 2015 ein Positionspapier zur TTIP-Diskussion geschrieben. Im letzten Punkt geht es um die Frage, wie denn eine sozialdemokratische Vorstellung eines Freihandelsabkommens aussähe. Die darin beschriebene Funktion des Staates sollte uns für unsere Politik eine Richtschnur sein. Außerdem müssen wir verstärkt darüber diskutieren, wie wir uns Europa vorstellen. Rechte Parteien wie die AfD setzen doch auf eine Mischung aus Europafeindlichkeit und Nationalismus. Wenn Europa auseinanderbröselt, verliert die Idee von Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Solidarität ihren Heimathafen. Ein starkes Manko Europas ist die fehlende gesamteuropäische Presse. Europa kann nur über die Öffentlichkeit geeint und zusammengehalten werden.

Du bist im Jahr 2000 nach 30 Jahren im Landtag aus der parlamentarischen Arbeit ausgeschieden. Was hat sich in der langen Zeit, in der du die Politik überblickst, verändert?

Es ist eine Verwilderung im Umgang miteinander zu spüren, die es so früher nicht gab. Als ich 1970 im Landtag anfing, ging es im Umgang auch zwischen Regierung und Opposition ausgesprochen menschlich und freundlich zu. Johannes Rau etwa war jemand, der den schweren Säbel gar nicht brauchte, weil er das Florett ausgezeichnet beherrschte. Dass der Ton rauer wird, habe ich zuerst in der Kommunalpolitik gemerkt, wo auf einmal junge Scharfmacher auftauchten. Und gerade kürzlich habe ich mich sehr über eine Mail des SPD-Parteivorstandes an alle Mitglieder geärgert. Darin stand der Satz: „Da liegt übrigens die Verlogenheit von Julia Klöckner“. Dieser Satz zielt auf die Person, auf den Charakter von Frau Klöckner. Reicht es nicht aus zu sagen, Julia Klöckner handle widersprüchlich? In Zeiten, in denen sich die politische Debatte aufheizt, ist es umso wichtiger, politische Kultur zu pflegen.

Hat diese Veränderung im Umgangston auch etwas mit einer Veränderung der Medienlandschaft zu tun?

Ich habe das Gefühl, dass die Medien viel schneller und oberflächlicher geworden sind seit die Bundesregierung und der Bundestag von Bonn nach Berlin umgezogen sind. Das Private spielt heute eine viel größere Rolle. Für die politische Positionierung ist das recht unwichtig. Dazu kommen noch diese furchtbaren Talkshows. Manche Journalisten fragen endlos lange immer wieder die selbe Frage und sind dann sogar noch enttäuscht, wenn sie nicht die Antwort bekommen, die sie sich gewünscht haben. Mit dem Ringen um politische Positionen hat das gar nichts zu tun.

Wenn du an deine Zeit im Landtag zurückdenkst, was sind Erfahrungen, die du an kommende Generationen in der Sozialdemokratie weitergeben willst?

Für mich das wichtigste Thema in der parlamentarischen Arbeit war immer der Bereich Wissenschaft und Forschung. Mein Leitsatz dazu lautete: Man muss der Wissenschaft volle Freiheit lassen und Öffentlichkeit herstellen. Natürlich ist nicht jeder einzelne Schritt in der Forschung öffentlich. Aber die Methoden und Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit müssen immer der Öffentlichkeit verpflichtet sein.

Noch etwas anderes?

Niemals den Zusammenhang zwischen sozialer Gerechtigkeit und Freiheit aus den Augen verlieren! Die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa beispielsweise ist eine unendlich große Gefahr für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Außerdem muss es für sozialdemokratische Politik ein Grundsatz sein, dass die soziale Frage niemals nur eine Frage des Geldes ist. Sie ist nämlich immer auch eine Frage der Mitbestimmung und damit der Anerkennung der Würde.

Gibt es etwas, das du bereust?

Ich knabber heute noch am Radikalenerlass. Wir haben Angst als Mittel der Bewusstseinsbildung eingesetzt. Das war eine politische Todsünde.

Konnte man das Willy Brandt verzeihen?

Die Partei war in dieser Frage sehr gnädig mit Willy Brandt. Ach, hätten Willy Brandt und Helmut Schmidt mal besser zusammen gearbeitet. An einen Tisch setzen, um eine Position ringen und die dann gemeinsam nach außen für die Position kämpfen. So funktioniert die Sozialdemokratie. Hätte das bei Brandt und Schmidt auch besser funktioniert, wäre die Partei deutlich stärker geworden.

Gibt es etwas, das nachfolgende Generationen besser hinbekommen haben als ihr früher?

Wir haben damals zehn Jahre über die Gesamtschule diskutiert und dabei viel zu wenig bewirkt. Hannelore Kraft hat mit dem Kompromiss zur Verfassungsänderung in der Schulpolitik historisches erreicht.

Gab es für dich in deiner langen politischen Laufbahn eine Art Leitschnur?

Da gab es zwei Dinge. Zum einen den Spruch aus dem Sachsenspiegel: „Eenes Mannes Rede ist keenes Mannes Rede, man soll sie billig hören beede“. Man sollte sich immer verschiedene Meinungen anhören. In den USA sieht man es ganz stark: Da informieren sich viele Menschen nur noch aus Quellen, die ihre eigene Meinungen wiederspiegeln. Alles andere wird schlichtweg ausgeblendet. Daran zerbrechen Gesellschaften.

Und das zweite?

Das zweite ist ein Spruch von Immanuel Kant: „Denn für die Allgewalt der Natur, oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache, ist der Mensch wiederum nur eine Kleinigkeit. Daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen, und als eine solche behandeln, indem sie ihn teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen, um sie schlachten zu lassen – das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst.“ Diesen Spruch habe ich mir auf einen Zettel geschrieben und immer bei mir getragen.

 

Micha Heitkamp studiert Evangelische Theologie in Münster

 

 

 

Labours Schattenaußenminister Benn: Europäische Kooperation in der EU verhindert „Race to bottom“

Autor: Chris O. King

In einer harten Verhandlungsnacht ging es schließlich am Donnerstag und Freitag (18./19.2.2016) um nicht weniger als die Frage, ob der britische Premierminister David Cameron in dem nun für den 23. Juni geplanten Referendum über den Verbleib seines Landes in der Europäischen Union diesen empfehlen wird oder nicht. Der Premier hatte stets deutlich gemacht, dass seine Vorstellungen von der reformierten EU einen deutlich wirtschaftsliberalen Anstrich haben würden als es bislang in Recht und Gesetz gegossen ist. Fraglich, aber wahlentscheidend, wird vor diesem Hintergrund das Wahlverhalten der Kernklientel aus den traditionell der Labour-Partei zugeneigten ArbeitnehmerInnenmilieus sein.

Doch zunächst zu den Grundlagen des Kompromisses vom Freitag: Am Ende der letztwöchigen Verhandlungen stand eine Einigung über einen Sonderstatus für das Vereinigte Königreich. Im Gegenzug sprach sich Downing Street No. 10 für einen Verbleib aus. Großbritannien könne nun dank des ausverhandelten Sonderstatuts das Beste aus zwei Welten haben, so Cameron. Es nehme die Bestandteile Europas an, die für Großbritannien funktionierten und halte sich aus denjenigen heraus, die für Großbritannien nicht funktionierten. Das Vereinigte Königreich werde darüber hinaus niemals Teil der Eurozone oder Teil eines europäischen Superstaates sein („Ever closer Union“), könne sich aber dennoch an den Entscheidungsprozessen innerhalb der nun stärker auf Freihandel und Wettbewerb gepolten Union beteiligen und britische Unternehmen würden nicht dafür diskriminiert, dauerhaft kein Teil der Eurozone zu sein. Weitere Vereinbarungen betrafen u.a Einschränkungen bei Sozialleistungen für EU-Immigranten und bei Bail Out-Regelungen im Finanzsektor. Die Empfehlung des Premiers ist in seinem eigenen Kabinett dennoch alles andere als unumstritten. Erst am Wochenende hatte sich prominent der Londoner Bürgermeister Boris Johnson für den Brexit ausgesprochen.

Eins ist ungeachtet dessen, wie sich die BürgerInnen am 23. Juni beim Referendum entscheiden werden, sicher. Die Fliehkräfte in der Europäischen Union haben sich in den vergangenen Tagen deutlich verstärkt. Seit Monaten schon werben indessen parteienintern und auch parteienübergreifend unterschiedliche Bündnisse wahlweise für oder gegen den Austritt Großbritannien aus der Europäischen Union.

Labours Kernklientel beim britischen EU-Referendum im Juni wahlentscheidend

Mit 213 von 231 Unterhausabgeordneten hat sich der Großteil der Labour-Partei für einen Verbleib in der Union ausgesprochen. Allerdings gibt es mit „Labour Leave“ auch innerhalb der Labour-Partei eine zahlenmäßig kleinere Strömung, die den Brexit dem Verbleib in der EU vorzieht. Angesichts dessen warnten vor Monaten Funktionäre des größten Gewerkschaftsdachverbands TUC (Trade Unions Congress), ein großer Teil der Gewerkschaftsmitglieder könnte dem Beispiel folgen und gegen den Verbleib in der EU stimmen, zumal der Eindruck mitschwingt, dass sich die Torys in der EU bloß für die Verwässerung europäischer ArbeitnehmerInnenrechte stark machen wollten. Dies ist insofern vor allem für die Gewerkschaften problematisch, da ein Brexit umso stärker ArbeitnehmerInnenrechte gefährden kann, bedenkt man, dass einige Vorzüge wie etwa Elternzeitregelungen oder die Mindestanzahl von 20 Urlaubstagen nur dank entsprechender EU-Direktiven existieren.

Hilary Benn, Labours designierter Schattenaußenminister erklärte die Frage, wie „Labour Leave“ den Sozialstaat denn ausserhalb der EU besser schützen wolle, im Gespräch mit dem Pinguin im Rahmen des Kampagnenauftakts 2016 von Young Labour Leeds damit, dass die Stimmen für ein Verlassen der EU aus der Labour-Partei eher „die Relikte eines sich seit den 1970er Jahren deutlich gewandelten Koordinatensystems in der britischen Europapolitik von Torys und Labour als Ausdruck einer tatsächlichen politischen Agenda“ seien. In den 1970er Jahren sei der überwiegende Teil der Labour-Party sehr Europa-skeptisch gewesen und die Torys eher überwiegend pro-europäisch, heute sei es umgekehrt.

Benn unterstützt ausdrücklich die Position des TUC und warnte davor, die Konservativen würden nach einem Brexit als allererstes den Mutterschutz und die Mindestzahl an bezahlten Urlaubstagen abschaffen. Dies meinten die Torys mit „Kosten der EU-Regulierung“ von der sie immerzu sprächen, so Benn weiter. Ohne europäische Kooperation „ginge das „Race to the Bottom“ (der Wettbewerb um die niedrigsten sozialen Standards) erst richtig los“.

Labour-Schattenaußenminister Hilary Benn: „„Race to the bottom“ kann nur gemeinsam auf europäischer Ebene verhindert werden“

Er sei sich bewusst, dass die EU noch voller „Imperfektionen“ sei. An einem Wandel könne man aber besser von innen arbeiten, wenn man mit am grünen Tisch sitze als von außen. Ein komplettes Abwenden von Europa käme nicht infrage, da 50 Prozent der britischen Exporte von dem gemeinsamen Markt abhängig seien, so Benn. Die alternativ diskutierte „norwegische Lösung“ (Zugang zum Binnenmarkt ohne Mitgliedschaft in der EU) sei alles anderes andere als optimal: „Norwegen muss ebenfalls Beiträge an die EU abführen, 2/3 der EU-Gesetzgebung übernehmen sowie die ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit akzeptieren, aber ohne dabei mitentscheiden zu können.“, erklärte Benn.

Bei den europäischen TTIP-Verhandlungen, einem Hauptangriffspunkt der linken Brexit-BefürworterInnen, sei es ähnlich. Wenn das Vereinigte Königreich nach der EU seine Zugangsbedingungen zum US-Markt alleine ausverhandeln müsse, dann seien die Konditionen aufgrund der geringen Verhandlungsmacht voraussichtlich schlechter, als wenn man dies innerhalb der EU vornehme. Jedoch sei sicherzustellen, dass Labour keinem Paket zustimmen dürfe, dass die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen oder die Verschlechterung sozialer Standards impliziere. Mit dem weit verbreiteten Argument, ein Verbleib in der EU mache die Rückverstaatlichung der britischen Eisenbahn unmöglich, räumte der Abgeordnete von Leeds-Mitte aus. Schließlich gebe es schon sei fünf Jahren eine öffentliche Buslinie zwischen Nordengland und London und andere Länder betrieben nach wie vor staatliche Eisenbahnunternehmen.

In dem proeuropäischen Teil der Labour-Basis macht sich derweil jedoch die Sorge breit, dass die Kernklientel aus der Arbeiterklasse durch den parteiübergreifenden Charakter von „Britain stronger in Europe“ und anderen Plattformen die Pro-Fraktion als sogenanntes „Polit-Establishment“ wahrnehmen könnte und beim Referendum aus Protest über die allgemeine Situation mit „Nein“ votieren würde. Schattenaußenminister Benn wies darauf hin, dass dies sich in der Tat als Problem herausstellen könne und es gerade deshalb so wichtig sei, dass viele AktivistInnen in ihren persönlichen Netzwerken an ganz alltagsnahen Beispielen konkret und themenbezogen deutlich machten, wie absurd ein Austritt aus der Europäischen Union angesichts der vielen Verflechtungen mit dem Kontinent sei. Wie auch immer das Referendum am 23. Juni ausgeht: Die Debatte um die ungeklärte Finalitätsfrage der Europäischen Union geht in die nächste Runde.

 

Chris O. King studiert internationale Politische Ökonomie in Leeds.

Foto: Dieter Schütz  / pixelio.de

Danke, Helmut!

Autor: Jannes Tilicke

Es passiert nicht häufig, dass ich einen bereits geschriebenen Text wieder komplett lösche. Aber mein Nachruf auf Helmut Schmidt kann am Ende nicht die Zusammenfassung seines Lebenslaufes sein; das können andere besser schreiben. Denn was der „einzige Staatsmann auf westlicher Seite mit Vernunft“ (Economist 1979) mir beigebracht hat, ist das Interesse an Politik.

Eigentlich habe ich mich immer schon für Geschichte interessiert und so war es nur eine Frage der Zeit, dass ich mit 13 oder 14 Jahren über die Bücher des ehemaligen Kanzlers Schmidt gestolpert bin. Mein erstes Buch war Schmidts Sicht auf den Kalten Krieg: Auf die damals wichtigen „Menschen und Mächte“. Endlich konnte ich Zuhause mitreden, wenn bei Familientreffen über Politik diskutiert wurde. Denn jetzt hatte ich auch eine Meinung zu Gewerkschaften, dem demographischen Wandel, Entwicklungshilfe, Kriegseinsätzen, Kirchen und dem Nato-Doppelbeschluss. Dass es sich dabei nicht unbedingt um meine eigene Meinung gehandelt hat, sondern um die von Schmidt, war für mich erstmal zweitrangig.

Für mich war Schmidt ein tragischer Held, der in schwierigen Situationen (Elbeflut, Schleierentführung, Ölkrise) nicht nur richtig gehandelt hat, sondern auch das Land vor dem ultimativen Bösen (Franz-Josef Strauss) gerettet hat und dann von den eigenen Leuten (auf dem Kölner Parteitag zum Nato-Doppelbeschluss) abgestraft wurde. Ich wollte mehr über Helmut Schmidt erfahren und so las ich mehr. Inzwischen kenne ich niemanden mit einer größeren Büchersammlung über und von Helmut Schmidt als mich selbst. Ich habe mich sogar mit den Büchern auseinander gesetzt, die er in seinen Büchern zum lesen emfiehlt: Die Selbstbetrachtungen von Marc Aurel, die philosophischen Ideen Karl Poppers und Immanuel Kants. Es hat mich einfach alles interessiert. Gleichzeitig blieb Politik aber nicht im Buch. Sie wurde für mich real. Ich beteiligte mich an Schülerstreiks, an Demonstrationen gegen Atomkraft und gegen Nazis, trat erst bei den Grünen bei und später der SPD.

Und zum ersten Mal merkte ich einen Dissens zwischen dem was ich in den Büchern gelesen hatte und dem wofür ich tatsächlich einstehen wollte. Im Nachhinein war das auch nicht wirklich verwunderlich, war Schmidt doch die Generation meines Urgroßvaters. Die politischen Aufgaben mit denen er sich konfrontiert sah, sind andere als ich sie heute empfinde: Schmidt war ein Politiker des Kalten Kriegs – das ist übrigens auch der erste und vielleicht auch wichtigste Satz meines ursprünglichen Textes gewesen – und wenn ihn sich heute viele als Kanzler zurückwünschen, dann verkennen sie, dass sich die Zeiten geändert haben: Die ökologische Frage und der demokratische Zusammenhalt sind sehr viel bedeutender geworden, als sie es 1980 waren. Mit dieser Erkenntnis konnte ich in den letzten Jahren viel kritischer an die politischen Aussagen Schmidts herangehen. Er wurde ein mehr oder weniger guter Gedankengeber.

Von der stumpfen Übernahme seiner politischen Ideen habe ich mich allerdings schon lange befreit. Ich habe Schmidt nie getroffen und das musste ich auch nicht. Ich interessiere mich mehr für seine politischen Ideen, als für seine Person. Den Personenkult um Schmidt finde ich deshalb auch sehr seltsam.

Was bleibt also von Schmidt für mich? Das Rauchen nicht. Das habe ich mir schon Anfang des Jahres abgewöhnt. Ich glaube, es sind weniger konkrete, politische Forderungen, als mehr Art und Weise Dinge anzudenken. Für mich zählt das beste Argument, auch wenn das manchmal in den eigenen Reihen provoziert. Ich glaube, dass man manchmal auch gegen den Strom schwimmen muss, wenn man von etwas überzeugt ist. Zuletzt habe ich mich an Helmut Schmidt selbst abgearbeitet. Danke, Helmut!

Jannes Tilicke ist Vorsitzender der Jusos Minden-Lübbecke und studiert Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Bielefeld.

Ein kontraintuitives Plädoyer

 Der Plan tendiert zum Gleichgewicht am Immobilienmarkt!

Autor: Christoph O. King

Laut einer Pressemitteilung des Pestel-Instituts müssen bis 2020 jährlich zirka 140000 Wohnungen gebaut werden, um der steigenden Nachfrage nach Wohnraum vor allem in Ballungs- und Universitätszentren zu begegnen.

Davon seien 80000 Sozialwohnungen und 60000 Wohneinheiten im „bezahlbaren Preissegment“ zu bauen, wofür den öffentlichen, genossenschaftlichen und privaten Investoren bessere Anreize etwa in Form von Investitionszulagen zu schaffen seien.

Auch der Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW) hatte im Juli ein staatliches Wohnungsförderprogramm für 100000 Wohneinheiten gefordert.

In der Kurzstudie des Pestel-Institus namens „Modellrechnungen zu den langfristigen Kosten und Einsparungen eines Neustarts des sozialen Wohnungsbaus sowie Einschätzung des aktuellen und mittelfristigen Wohnungsbedarfs “, die Grundlage der Pressemitteilung ist, unterscheidet das Institut die Art der öffentlichen Wohnraumförderung in Objektförderung und Subjektförderung. Bei der Objektförderung handelt es sich um das Schaffen von Anreizen für den Bau von Wohnbestand, bei der Subjektförderung um die Förderung von individuellen MieterInnen mit Wohngeld.

Darüber hinaus besteht eine dritte Möglichkeit grundsätzlich darin, dass die öffentliche Hand selbst Eigentümer von Immobilien ist und diese zu bezahlbaren Preisen anbietet. Voraussetzung dafür ist, dass ausreichend öffentliche Wohnungen zur Verfügung stehen, damit es nicht wie bei den staatlich verwalteten Wartelisten in schwedischen Ballungsräumen, allen voran Stockholm, zu langen Wartezeiten kommt.

Ein positives Beispiel ist die Stadt Wien, die über selbst über 220000 eigene Wohnungen verfügt und den Bau weiterer 200000 gefördert hat. Dadurch konnten die Mietpreisspiegel in Wien auf bezahlbarem Niveau gehalten werden. Heutzutage leben zirka zwei Drittel der WienerInnen in kommunalen oder geförderten Wohnungen. Nachdem die EU-Wettbewerbskommission im letzten Jahr Wettbewerbsverzerrung witterte, waren dreißig europäische Städte, unter ihnen Berlin, dem Aufruf des Wiener Oberbürgermeisters Häupl (SPÖ) gefolgt und haben ein Plädoyer für den öffentlichen sozialen Wohnungsbau unterzeichnet.

Den öffentlichen Wohnungsbau mit wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen begrenzen zu wollen, kann nur so verstanden werden, dass die Wettbewerbskommission implizit annimmt, der freie Markt sei die bessere Institution, um die Nachfrageströme ins Gleichgewicht zu bringen, als die öffentliche Hand. Doch welche Hand richtet Wohnraumangebot und Wohnraumnachfrage denn nun wieder ins Gleichgewicht? Die unsichtbare Hand des Marktes oder die administrative Hand des Staates? Obwohl der Gleichgewichtsbegriff eher aus dem marktwirtschaflichen Diskurs bekannt ist, möchte der Autor möchte hier ein kontraintuitives Plädoyer dafür abgeben, dass auch der Plan am Immobilienmarkt zum Gleichgewicht tendiert und das unter bestimmten Voraussetzungen sogar besser als der Markt, aber zunächst zur Vorgeschichte.

Angebots- und Nachfragesteuerung durch den Markt

Wir kennen noch allzu gut die Argumentationen aus den letzten Jahren, etwa vom Immobilienverband Deutschland (IVD), dass eine Mietpreisbremse am Ende zu weniger Angebot führe und damit am Ende noch eine Verschlechterung darstelle5.

Die Logik des Marktes erscheint auf den ersten Blick simpel: Der Preis vom Wohnraum wird von Angebot und Nachfrage bestimmt. Kommt es in einer Aufschwungphase zu steigenden Immobilien- und Mietpreisen vergrößern Investoren das Immobilienangebot, bis der Preis wieder absinkt. So kann die Nachfrage zum jeweiligen am Markt bezahlten Preis gesättigt werden. Ähnlich argumentierte Christian Lindner von der FDP vor zwei Jahren: Das Modell der Mietpreisbremse sei keine Lösung, weil es die Anreize reduziere, in Wohnraum zu investieren. MieterInnen sollten aber gegebenenfalls bei Bedarf Wohngeld bekommen. Genau genommen handelt es sich beim öffentlichen Wohngeld (Subjektförderung) bereits um einen Markteingriff, der vor dem Hintergrund einer marktwirtschaftlichen Logik Fehlanreize verursacht.

Wenn es zusätzlich zum marktwirtschaftlichen Wohnraumlenkung ein bedarfsorientiertes Wohngeld gäbe, so wie es FDP-Chef Lindner vor zwei Jahren vorschwebte, dann würde die öffentliche Hand damit ohne Not eine Immobilienblase befeuern. Private Investoren könnten darauf setzen, dass die Immobilienpreise immer weiter stiegen, weil durch staatliche Mietsubventionen nahezu jeder Mietpreis bezahlt würde. Die öffentliche Hand wäre nicht mehr dazu in der Lage, ohne Gefahr aus der Mietpreissubvention auszusteigen, weil eine Absenkung der individuellen Förderung der MieterInnen sofort die Wohnraumnachfrage zusammenbrechen lassen würde. Bumm! Die Immobilienblase platzt, nachdem der Markt vorher wie auf Droge von immer höhere öffentlichen Subventionen lebte.

Bei genauerem Hinsehen treten am Markt auch ohne zusätzliches Wohngeld erhebliche Probleme bei Ausgleich von Angebot und „realer Wohnraumnachfrage“ (hier derjenige Wohnraum, der auch tatsächlich bewohnt werden soll und nicht nur als Wertanlage in Erwartung steigender Nachfrage erworben wird) gemeint.

Das Niedrigzinsumfeld, die enormen weltweiten Liquiditätsüberschüsse und die Globalisierung der Finanzmärkte haben diesen Effekt verstärkt und dafür gesorgt, dass am Markt Angebot und „reale Wohnraumnachfrage“ kaum noch ins Gleichgewicht zu bringen sind.

Sobald an einem bestimmten Ort steigende reale Nachfrage prognostiziert wird, tritt ein spekulativer Herdentrieb ein. Kapital fließt zu und auf einen Schlag wird eine große Anzahl an Luxuswohnungen in Auftrag gegeben, weil diese Projekte die größte Profitmarge versprechen. Die Schaffung von sozialem und bezahlbarem Wohnbestand kommt in dieser Phase zu kurz.

Kaum werden einige Jahre später fallende Preise prognostiziert, setzt Panik ein und das Kapital wird abgezogen. Auch dann platzt die Immobilienblase!

Luxuswohnraum steht leer, während die erheblich verschlechterte Arbeitsmarktlage dazu führt, dass sich ArbeitnehmerInnen bezahlbaren Wohnraum in Ballungsräumen aufgrund von Arbeitslosigkeit trotz fallender Immobilienpreise immer noch nicht leisten können oder weil die Luxuswohnungen selbst nach dem Preisverfall für Otto NormalverbraucherIn zu teuer sind (und sei es allein in der Unterhaltung).

Wir kennen dieses Szenario beispielsweise aus Spanien: Wohnungsräumungen und Obdachlosigkeit bei gleichzeitigem Überangebot an Wohnraum.

Oder aus der Agglomeration „Greater London“: Trotz Vollbeschäftigung und Bauboom herrscht Wohnraummangel, weil in den unteren Lohngruppen die Gehälter nicht ausreichen, um die neugebauten bzw. AnlegerInnen und Fonds verkauften Wohnungen zu kaufen oder zu mieten.

Angebots- und Nachfragesteuerung durch die öffentliche Hand

Wenn der Staat Wohnraumangebot und Wohnraumnachfrage ausgleichen soll, dann fällt die Rolle der Spekulationskasse der AnlegerInnen weg. Oder mit anderen Worten: Steigende Nachfrage zieht kein spekulatives Kapital an, weil Wohnungen in der staatlichen Wohnraumverwaltung nicht mit Geld erworben werden, sondern per Antragsstellung.

Nicht mehr die Preisentwicklung ist der Indikator dafür, ob Angebot und Nachfrage in einem Gleichgewicht zueinander stehen, sondern die Frist zwischen Antragsstellung und Antragsbewilligung.

Aber auch diese Frist ist ein Gleichgewichtsindikator!

Wenn eine Familie mit drei Kindern beispielsweise aus beruflichen Gründen von Minden nach Köln umzieht, wären Wohnraumangebot und Wohnraumnachfrage dann im Gleichgewicht, wenn sie in Köln sofort eine dem Platzbedarf entsprechende Wohnung zugewiesen bekommt und im Umkehrschluss die verlassene Wohnung in Minden sofort wieder vermietet werden kann. Kommt es zu Wartezeiten sind Angebot und Nachfrage nicht im Gleichgewicht.

Idealerweise sollte die öffentliche Hand deshalb ein mehr als ausreichendes Angebot vorhalten, sodass Leerstand als Puffer nichts kritisches ist. Jedenfalls erscheint es nicht so kritisch, wie die akute Wohnungsnot oder Kaufkraftverluste bei ArbeitnehmerInnen (nach Abzug von Mieten oder Tilgungsraten) infolge rasant steigender Immobilienpreise. Wichtig ist, so wie auch das Pestel-Institut anmerkt, die Erschließung neuen Baulands und vor allem die Antizipation von Schweinezyklen. Der Mangel an sozialem Wohnraum ist vor allem aus dem Grund entstanden, weil die öffentliche Hand in den letzten 30 Jahren dazu tendierte, sich prozyklisch zu verhalten, also die Marktentwicklungen zu duplizieren. Sie hat in Krisenzeiten zur kurzfristigen Haushaltskonsolidierung kommunale Wohnungen verkauft, als die Preise im Keller waren. Nun, wo die Preise Mietpreise in die Höhe geschossen sind, rückt die Rekommunalisierung der Wohnungwirtschaft wieder auf die Tagesordnung.

Und so kommen wir zum kontraintuitiven Plädoyer: Der Plan tendiert unter bestimmten Bedingungen zum Gleichgewicht des „realen Wohnraumnachfrage“, wenn durch antizyklisches Bauen die Indikator der Mietfristen ins Gleichgewicht gerückt werden kann, der marktwirtschaftlich gesteuerte Immobilienmarkt tut aufgrund der Rolle der Spekulationskasse privater Investoren nie!

Damit verschiedene Präferenzen bei der Wohnungsgestaltung berücksichtigt werden und nicht irgendwann aus schlichtem Budget- oder Bürokratiepragmatismus heraus riesige Betonwüsten gleich aussehender Plattenbauwohnungen entstehen, könnte man mit den Privaten Auftragnehmern kooperieren. Architekturbüros und Bauindustrie würde nach Bewilligung der Baufläche für den sozialen Wohnungsbau weitestgehend freie Hand in der Gestaltung gelassen. Dadurch können Architekten und Bauingenieure nach Herzenslust innovative und kreative Konzepte und Materialien testen, sodass am Ende für jeden Geschmack etwas dabei sein dürfte.

Christoph O. King studiert unter anderem Politikwissenschaft in Bielefeld.
Foto: mittelstandinbayern.de  / pixelio.de

Angela Merkel – Grünspan an der Scheinheiligenstatue

Autor: Christoph O. King

Unser Autor Jannes Tilicke hat in seinem Kommentar „Angela Merkel. Die Scheinheilige“ sein Innerstes nach außen gekehrt. Er wundert sich! Er wundert sich darüber, dass Angela Merkel in der Flüchtlingskrise scheinbar auch unter Linken salonfähig geworden ist und er wundert sich über Sätze wie Es geht hier nicht um Politik, es geht um die Flüchtlinge” in seinem Umfeld, und das von Leuten, die sonst „sämtliche Bereiche ihres Lebens politisiert“ hätten. Damit ist er unter Linken nicht alleine. Ein Blick in die taz vom Samstag, Deutschland grünster Tageszeitung: „Was ist mit Angela Merkel los?“ fragt Politik-Korrespondentin Bettina Gaus. „Ungekrönt und angefeindet verfolgt sie [Angela Merkel] eine Linie, die sie unbeliebt macht. […] Warum tut sie das?“, wundert Bettina Gaus sich weiter1. Aber dann bekennt die Journalistin doch noch Farbe, genauso wie die zitierten Linken aus Jannes Tilickes Umfeld. Früher hielt sie die Kanzlerin für eine kalte Pragmatikerin der Macht, nun reicht ihr der Angela Merkels Solidarität mit den Geflüchteten um sie in der Sache zu unterstützen.

Ehrlich gesagt, ich wundere mich nicht! Vielleicht unterstütze ich sie auch in der Sache. Jedenfalls bin ich Angela Merkel dankbar, sich von geistigen Brandstiftern aus den südostdeutschen Landesgruppen ihrer Partei nicht vom Kurs abbringen zu lassen. Aber am Ende bleibt sie für mich doch eine Pragmatikerin der Macht. Angela Merkel ist eine zu gewiefte Taktiererin, um dem Glauben zu verfallen, eine Gesinnungsethik sei ihr vor dem Horizont des Hier und Jetzt gesprossen. Ihre innersten Gedanken werden schon um das Wahljahr 2017 kreisen. Und die Fragen aus dem Hier und Jetzt werden leider aller Voraussicht auch im Jahre 2017 noch die Weltbühne beherrschen: Syrien, Irak, Jemen, Ukraine und viele andere Krisenherde, die Tausend von Heimatlos gewordenen nach Europa treiben und den Hiesigen beherztes Krisenmanagement abfordern.

Angela Merkel wird im Blick haben, dass die Union 43% in den Umfragen nicht halten kann, sobald man wirklich kontroverse Entscheidungen vor Ort treffen muss, die man nicht einfach aussitzen oder nach Brüssel abschieben kann. Merkels wichtigster Strategie der letzten Dekade geht die Puste aus und sie sucht bedächtig nach einer neuen.

Welche Strategie im Blick auf 2017 die richtige ist, hängt maßgeblich von der erwarteten Zusammensetzung des deutschen Bundestages ab und die war selten so unwägbar, wie heute. 2017 könnten realistischerweise vier, fünf oder sechs Parteien im Deutschen Bundestag sitzen, je nach dem, ob die FDP wieder und die AfD erstmals die 5%-Hürde schafft. Auf Basis der gestrigen Sonntagsfrage (11.10.2015) würden 46,5% zur rechnerischen Mehrheit reichen. Diese kämen entweder bei einer erneuten großen Koalition, einer Schwarz-Grünen Koalition oder einer Jamaika-Koalition zustande. Für die Ampel oder Rot-Rot-Grün würde es nach derzeitigem Stand nicht reichen und andere Koalitionsoptionen unter Einbeziehung von Linken oder AfD erscheinen kaum als gangbar.

Während die bayerischen und thüringischen CDU/CSU-Landeschefs Horst Seehofer und Mike Mohring eine härtere Gangart in der Zuwanderungspolitik fordern können, um die in der Breite eher rechtslastige Wählerklientel in ihren Bundesländern bei der Stange zu halten, kommt Angela Merkel nicht drumherum, Signale an die Grünen zu senden, will sie sich für 2017 im Bund Machtoptionen aufrechterhalten.

Jetzt in den sauren Apfel zu beißen und eine liberale Asylpolitik gegen parteiinterne Widerstände zu verteidigen, könnte im Wahlkampf Merkels Handlungsspielraum erweitern. SPD und Linke werden im Bundestagsrennen die Verteilungsfrage wieder stärker in den Mittelpunkt rücken. Die Grünen können sich in verteilungspolitischen Fragen auf parteiinterne Diskussionen zwischen dem linken Flügel und den „Realos“ einstellen, der die Wähler*nnen im Unklaren darüber lässt, ob man mit den Grünen nun Rot-Rot oder die Union mitwählt. Die SPD wird in der großen Koalition wahrscheinlich schon 2016 ankündigen, dass es ohne mehr Investitionen, einen höheren Spitzensteuersatz und einen höheren Mindestlohn keine Neuauflage von Schwarz-Rot geben wird.

All diesen für die eigenen Klientel unbequemen verteilungspolitischen Positionierungsfragen kann Angela Merkel ausweichen, wenn sie sich mit Schwarz-Grün oder Jamaika zwei glaubwürdige Optionen für Koalitionen der Besserverdienenden offenlässt.

Und dies erfordert nur ein Gebot: Sie darf die moralisch-ethischen Glaubensgrundsätze der Grünen-Wähler*nnenschaft nicht despektieren.

Christoph O. King studiert unter anderem Politikwissenschaft in Bielefeld.
Foto: S. Hofschlaeger  / pixelio.de

Angela Merkel – Die Scheinheilige

Autor: Jannes Tillicke

Ich wundere mich schon sehr. Viele meiner linken Freund*innen engagieren sich ehrenamtlich für die Flüchtlingshilfe und finden plötzlich die Bundeskanzlerin richtig gut. Denn Angela Merkel scheint in der Flüchtlingsfrage endlich ganz weit links angekommen zu sein. Sie wird geliebt und ist sowohl für die altersgraue Dackelbesitzer*in im eigenen Schrebergarten, als auch für die linke Soziologie-Studierende* mit „Kein Mensch ist illegal“-Pullover wählbar geworden. Auch weil sie seit wenigen Wochen die deutsche Willkommenskultur wie keine andere personifiziert. Nach der Klimakanzlerin und der eisernen Europakanzlerin ist sie jetzt zur Willkommenskanzlerin geworden. Ihre Alternativlosigkeit mündet in einem: „Wir schaffen das!“

Dabei ist Merkels Durchsetzungswille lediglich aufgesetzt. Denn auch die Flüchtlinge haben sich – anders als bei ihrem Vorgänger – dem Machterhalt im Bundeskanzleramt unterzuordnen. Zwar muss Merkel politisch niemandem mehr etwas beweisen, denn aller wichtigen Konkurrent*innen um das Kanzleramt hat sie sich entledigt. Aber auch wenn sie einzig in der Union geworden ist, regiert sie trotzdem vorsichtig. Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach, war schon immer ihr Regierungsmotto. Es geht ihr zwar auch um den Platz in der Geschichte – schließlich winkt der Nobelpreis und eine Karriere bei den Vereinten Nationen -, aber so ganz geheuer war es ihr dann doch nicht, als sie den Spitzenplatz im Deutschlandtrend der beliebtesten Politiker*innen verlor. Deshalb wurden kurzfristig wieder Grenzkontrollen in Bayern eingeführt, um ein Zeichen an die Unionstammwählerschaft zu senden. Auch, dass Mutti jetzt selbst das Ruder in die Hand nimmt, dürfte in konservativen Kreisen gut angekommen sein.

Warum wird die Bundeskanzlerin überhaupt als so weltoffen empfunden? Sie war es doch, die dem palestinänsischen Flüchtlingsmädchen zuerst sämtliche Zukunftsträume nahm, um ihr dann pressewirksam durch die Haare zu streicheln. Und sie war es doch auch, die sich monatelang nicht mit dem Thema Flucht auseinander setzen wollte. Erst als der besorgte Mob in Heidenau Feuer legte, war das Kanzleramt alarmiert. Angela Merkel wirkt nur deshalb so weltoffen, weil es ihre eigene Parteifamilie nicht ist. In Ungarn werden wieder Grenzzäune durch Europa gezogen. Der bayrische Löwe brüllt, die Belastungsgrenzen seien erreicht und es müsse endlich einen Aufnahmestopp geben. Landes- und Kommunalpolitiker der Union schwenken nach rechts aus und fordern endlich einen Kurswechsel.

Einen Kurswechsel von was überhaupt? Auch die deutsche Bundeskanzlerin ist an Artikel 16 des Grundgesetzes gebunden. Eine kleine Nachhilfestunde für Horst Seehofer: Das ist der, wo drin steht, dass wir politisch verfolgten Menschen ausnahmslos Asyl gewähren. Und dass die Vereinbarungen der Genfer Flüchtlingskonferenz eingehalten werden, ist mehr eine Selbstverständlichkeit, als ein außergewöhnliches politisches Bekenntnis. Europa ist so oft stolz auf seine humanistischen Wurzeln. Ich dachte bis jetzt immer, auch das Recht auf Asyl gehöre dazu. Zu suggeriren, dass die Bürger*innen in diesem Land sich politisch irgendwo zwischen dem Stammtisch-Protest gegen Flüchtlingsheime und ehrenamtlichen Engagement in den Notunterkünften einordnen können und dass beides als legitime Meinung durch die Union abgedeckt sei, ist Strategie. Wer die Angela nicht mag, der mag halt den Horst und andersherum.

Also bleibt die Frage, was Merkel wirklich will. Erhellend ist ihr Interview mit Anne Will. Die Politik der offenen Grenzen sei nicht ihr Weg. Folglich möchte sie die europäischen Außengrenzen verstärken. Das Programm „Frontex“, soll diese europäische Grenzabwehr durchführen. Dieses Programm hat übrigens die europäische Seenotrettung „Mare Nostrum“ ersetzt. Zu Recht waren wir alle schockiert über das Foto des toten Aylan. Wo diskutiert Angela Merkel denn über ein europäisch koordiniertes Seenotrettungsprogramm? Wir nehmen jede*n auf, vorausgesetzt sie/er schafft es bis nach Deutschland. Bisher ging es auf EU-Ebene immer nur darum, dass die anderen europäischen Staaten gefälligst auch ein paar Flüchtlinge aufnehmen sollen. Ich glaube, vielen ist der Zusammenhang zwischen dem Bild von Aylan und dem Begriff der europäischen Außengrenzen nicht bewusst. Das ist die Festung Europa, die wir seit Jahren kritisieren.

Nach Merkels Meinung sollen die Flüchtlinge aber am Besten in der Türkei bleiben. Mit finanziellen Hilfen soll die EU in den Flüchtlingslagern dort ein Leben bieten, dass die dort garnicht mehr – Zitat Merkel – „weglaufen“. Normalerweise hüte ich mich vor dem Wort „Imperialismus“, aber genau das ist es, wenn Probleme nicht gemeinsam gelöst und getragen werden sollen, sondern einfach auf andere Staaten abgewälzt werden. Merkel spricht weiterhin vom Schrecken des Krieges in Syrien. Bedauerlich, dass es dabei bleibt. Dass sie keine außenpolitische Strategie für den Nahen Osten hat, wie Fluchtursachen bekämpft werden können, ist wohl so.

Die Situation in den Flüchtlingslagern ist katastrophal. Anne Will bezeichnet es euphemistisch als chaotisch. Wir wollten einmal dezentrale Unterbringung für alle! Inzwischen verteidigen wir die Unterbringung in Turnhallen oder in Zeltstätten, weil Asylverfahren nicht schnell genug laufen. Das ist etwas, was Merkel dringend angehen müsste. Wir brauchen Personal damit Aufenthaltsstatus und berufliche Qualifikation schneller anerkannt werden können. Die Leute müssen sich hier Arbeit suchen können oder ihre Ausbildung fortsetzen können. Nur dann kommen sie auch Deutschen in Kontakt und die Sprachkenntnisse kommen von alleine. Arbeit ist der Schlüssel Teil unserer Gesellschaft zu werden. Viel wichtiger als das Verteilen von Grundgesetzen an Flüchtlingsheime. Debatten über Leitkultur sind integrationspolitisch nämlich so richtig 90er Jahre, liebe Union. Vielleicht müsste man dafür den Flüchtlingen auch zuhören. Die prangern seit Jahren die Residenzpflicht an, weil sie integrationshinderlich ist.

Übrigens, wo wir gerade bei dem Thema sind: Wir brauchen keine „Kultur der Verabschiedung“, wie sie Ingbert Liebling, der schleswig-holsteinische CDU Vorsitzender fordert, den Mutti daraufhin eben nicht so zurückgepfiffen hat, dass dieser nur noch zurücktreten konnte. Wir stellen uns gegen Abschiebung, weil Abschiebeverfahren die Menschenwürde angreifen – lieber Horst Seehofer, auch das ist in Artikel 1, des Grundgesetzes geregelt. Während Angela Merkel gestern im Fernsehstudio bei Anne Will saß, verkündete die europäische Komission ein 800 Millionen teures Abschiebeprogramm der europäischen Union durch Frontex.

Fakt bleibt auch, dass ein Teil der Flüchtlinge einen Asylantrag stellen, weil es keine anderen legalen Einwanderungsmöglichkeiten gibt. Wollen wir Menschen jetzt vorwerfen, dass sie von einem Dollar pro Tag nicht leben wollen? Sind das die sogenannten „Wirtschaftsflüchtlinge“? Wir bräuchten keine kollektive Ablehnung von Flüchtenden aus „sicheren Drittstaaten“ oder die Leugnung von Verfolgung der Sinti und Roma auf dem Balkan, wenn es endlich ein eigenständiges Einwanderungsgesetz geben würde. Ein Gesetz, was auch die Möglichkeit für wirtschaftliche Immigration vorsieht und in anderen Ländern längst beschlossen ist. Auch bei diesem Vorhaben behindert die Union und die Kanzlerin schweigt sich aus.

Wie gesagt, ich bin verwundert. Übrigens auch über den Satz: „Es geht hier nicht um Politik, es geht um die Flüchtlinge.“ Dieser fällt übrigens besonders gern von Menschen, die sonst sämtliche Bereiche ihres Lebens politisiert haben. Offensichtlich haben zehn Jahre der Regierung Merkel dieses Land apolitisch zurückgelassen. Statt einer kollektiven Aufschreireaktion, wenn wieder Flüchtlingsheime brennen oder der Mob seine zynischen Lügen vom vollen Boot verbreitet, wäre es ganz schön, wenn wir wieder dazu kommen könnten, selbst zu agieren. Flüchtlinge willkommen heißen, ist wichtig. Das ist aber eine Selbstverständlichkeit. Die Frage unter welchen Bedingungen wir sie willkommen heißen, ist politisch.

Jannes Tillicke ist 24 Jahre alt und studiert Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Bielefeld.

Foto: Tim Reckmann  / pixelio.de