The Clash of Values

Autor: Jannes Tilicke

Ich äußere mich im folgenden zur Debatte, die von Chris Öttking angefacht wurde und mit Einwürfen von Felix Egglerglüß und Micha Heitkamp um viele wichtige Punkte ergänzt wurde. Die Kernfrage der Debatte war, wie zeitgemäß die Thesen von S.P. Huntington zum Kampf der Kulturen heute noch sei. Wie bereits richtigerweise festgestellt worden ist, ist Kultur, wie bei Huntington, kein geographischer Begriff. Ich stelle mir also die Frage, ob über den Wertebegriff dieses Dilemma geschlossen werden kann:

 
Wir leben in einem weltpolitischen Vakuum. Der westliche Traum von Freiheit und Demokratie nach dem Fall des eisernen Vorhangs war zu schnell ausgeträumt, weil wir glaubten durch freie Märkte und Demokratieerziehung unsere Welt zu einem friedlicheren Platz zu machen. Dies war – so wissen wir heute – ein Fehler! Aber warum?

Bis vor 25 Jahren war Europa zweigeteilt. Im Westen die NATO und im Osten die Staaten des Warschauer Paktes. Durch atomare Hochrüstung hatten beide Mächte ihre militärischen Kräfte zu einer Perversion der gegenseitigen Angst vor einem Ertschlag getrieben. An der „deutschen Frage“ spitzte sich dieser Konflikt zu. Was läge da näher als die These, die Welt wäre zu diesem Zeitpunkt in bipolare Machtsphären geteilt? Und wenn dieser Gedanke weitergeführt wird, war natürlich nach dem Zerfall der Sowjetunion die USA Sieger dieses Machtkampfes und geopolitischer Monopolist.

Die bipolare Welt bis 1989 war eine eine Illusion

Bei genauerer Betrachtung hat sich diese Polarität allerdings schon Jahrzehnte vorher aufgelöst; wenn sie überhaupt jemals existiert hat. Da wäre zum einen die Teilung der NATO zwischen den USA und Europa. Während die europäischen Staaten nach 1945 mit den wirtschaftlichen und politischen Nachwehen eines zweiten Weltkrieges zu kämpfen hatten, mussten sich die Amerikaner mit diesen Problemen nur am Rande beschäftigen.

Vordergründig ging es in Europa um die Etablierung von Sozialstaaten für das Heer von Kriegsversehrten, Flüchtlingen und Menschen ohne jede wirtschaftliche oder soziale Absicherung. Wirtschaftswachstum schaffte hier erstaunlich schnell Vertrauen für Demokratie in Staaten, die nicht auf eine lange Geschichte der Demokratie ihrerseits zurückblicken konnten. Vereinfacht gesagt war für die Neuordnung Europas nach dem zweiten Weltkrieg der Sozialstaat wichtiger als die Demokratie. Zum einen führte dies zu verschiedenen Ideen von Sozialstaatlichkeit und zum Anderen zu diktatorischen Experimenten im Francospanien, Portugal oder Griechenland. Einzig der Gedanke europäischer Versöhnung, die grob im „Nie wieder Krieg in Europa!“ ihren Höhepunkt in der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraums mündete, ist ein europäischer Common Sense. Auf dem amerikanischen Kontinent stellte sich die Lage hingegen ganz anders dar. Hier gab es keine massiven Verluste und als (moralischer) Sieger gegenüber dem Faschismus fühlte sich die konservative Elite dazu berufen die nächste Gefahr, die kommunistische Dikatur, niederzuringen. Der Gedanke vom amerikanischen Weltpolizisten war geboren. Ein Gedanke der sich auch nach dem Fall des eisernen Vorhangs bis heute hält.

Auf der anderen Seite gab es auch Spannungen in den Staaten, die allgemein zur östlichen Einflusssphäre gezählt werden. Stalin war fleischgewordener Anachronismus. Ein Diktator wie er im Buche steht, der keine moralischen Bedenken dabei hatte mit den Faschisten zu
paktieren oder seine Bevölkerung zu ermorden. Die Führer seiner Satelitenstaaten waren oft in der Funktionärslaufbahn von der harten Hand des Stalinismus politisch sozialisiert worden.

Nach Stalins Tod 1953 kam es jedoch in Moskau zu einem neuen liberaleren Kurs, der in der kommunistischen Welt für Verwirrung sorgte. In den Staaten des europäischen Realsozialismus war die Annahme endlich die Möglichkeit zu mehr Mitbestimmung am Ende durch Zerschlagung von Aufständen in Ungarn oder in der DDR durch ein Blutbad des sovjetischen Hegemons beendet worden. In Peking hingegen wurde Mao mit dem neuen Kurs der neuen Moskauer Führung nicht warm. Er verschwand in einer Art realsozialistischer Autonomie, die durch immer neue Reformen in einem diktatorischen Staatskapitalismus unter roter Fahne mündet.

Aber über diese Pole hinaus gab es auch Entwicklungen in anderen Bereichen der Welt, die sich nicht in das strenge Ost-West-Schema einfügen lassen. Der schiitische Iran beispielsweise wurde nach einer islamischen Revolution Gottesstaat. In der sunitischen Welt setzten sich größtenteils Militärdikaturen durch, die mal mit der einen und mal mit der anderen Seite paktierten. Ähnliches gilt auch für den gesamten Raum Südamerika. Hier gab es sozialistische Experimente die oft als „Der dritte Weg“ beschrieben werden und sowohl von Washington als auch von Moskau mit Skepsis betrachtet wurden. Und wo schlussendlich Sonderwege wie beispielsweise die indische Demokratie, Nordkorea oder das immer wieder durch neue Bürgerkriege von Privatarmeen gebeutelte Afrika einzuordnen sind, lässt sich garnicht feststellen.

Was sich aber sehr wohl feststellen lässt ist, dass Huntington garnicht so Unrecht hat, wenn er von verschiedenen Kulturkreisen spricht, die gegeneinander um die Vormachtstellung in der Welt konkurrieren. Jedoch handelt es sich weniger um einen Kampf gegen einen übersteigerten, westlichen Kapitalismus. Sondern – das wird deutlich, wenn wir einmal einen Schritt von der Fokussierung auf den ISIS zurücktreten – die Jungs wollen das ganze Paket „Westen“ nicht!

Neue Feinde der Demokratie

Niemand sagt dies deutlicher als Alexander Dugin, seines Zeichens Rektor der Soziologischen Fakultät der Staatlichen Lomonossow-Universität und russischer Chefideologe. In einem bemerkswert ehrlichem Interview im SPIEGEL 29/2014 lässt er sich zu der Aussage hinreißen: „Unterschiedliche Gesellschaften haben unterschiedliche Werte. Es gibt keine universellen Werte. Die, die dafür gehalten werden, sind eine Projektion westlicher Werte. Die westliche Zivilisation ist eine rassistische, ethnozentrische Zivilisation. Jeder Westler ist ein Rassist –
kein biologischer, wie Hitler, aber kulturell. Deswegen denkt er, es gebe nur eine Zivilisation – oder Barbarei. Und diese Zivilisation beruhe auf Demokratie, Fortschritt, Menschenrechten, freier Marktwirtschaft und individueller Identität. Die Barbarei aber negiere dies alles, aus irgendwelchen religiösen Gründen. So denken die Westler, deswegen sind sie kulturelle Rassisten.“

Damit füttert er all jene, die nicht daran glauben, dass Fukuyama in seinem Aufsatz „Das Ende der Geschichte“ (1992) im Kern richtig lag, wenn er vom universalistischen Wert des Liberalismus und der Demokratie spricht. Auch jene, die sich lieber mit Diktatoren und Terroristen solidarisieren, als auf alte linke Feindbilder zu verzichten. Es ist ein politischer Kampf, der auch in Europa stattfindet. Antisemitische Auswüchse und neoimperialistische Auswüchse in Russland müssen aufs Schärfste verurteilt werden. Antifaschistische Arbeit beginnt vor Ort, wo der Irrweg eines kurzfristigen Friedens zum Opfer eines langfristigen Friedens bestritten wird.

Ein „Clash of Values“

Der Westen muss im Jahr 2014 einen schweren Schock verkraften. Jahrzehnte lang hat er geglaubt, es sei eine kleine Minderheit, die sich gegen seine allgemeinen Wertvorstellungen stellt. Und jetzt muss er erkennen, dass diese Wertvorstellungen scheinbar von großen Teilen der Völkergemeinschaft nicht länger geteilt werden. Damit ist die hegemoniale Stellung der USA gebrochen. Es ist jene Verunsicherung, die sich beispielsweise in einem neuen Washingtoner Zögern, was die außenpolitische Verantwortung der Amerikaner angeht, niederschlägt. Viel zu lange haben die Untersuchungsprozeße zu Syrien und dem Irak in der UN gedauert. Sicher ist dieses Zögern gespeist von einem Scheitern der Afgahnistan- und Irakmissionen, davon dass die europäischen Verbündeten in Deutschland un Frankreich sich nicht an der Coalation of the Willing beteiligten wollten, sowie von einem Unverständnis in Europa für NSA und TTIP. Sie ist aber auch gespeist von einer veränderten Weltlage, neuen Verbündeten und neuen Feinden. Und sie ist nicht zu letzt durch eine vertrackte, innenpolitische Lage in den USA gespeist. Die Verunsicherung in der Bevölkerung vor ausufernden Finanzmärkten verunsichert schlussendlich auch das politische System.

Es gilt nun mehr gegenseitiges Verständnis für die Verbündeten zu entwickeln; ganz gleich ob diese nun in europäischen Parlamenten sitzen oder im Untergrund für Demokratie stark machen. Es ist kein „Clash of Cultures“, sondern ein „Clash of Values“.

Deshalb kann man garnicht oft genug betonen, worin diese Werte liegen. Wir wollen ein Gastrecht für die politisch und religiös Verfolgten. Wir wollen, dass sich Menschen frei entfalten können, sowohl wirtschaftlich, als auch bildungstechnisch. Wir wollen keinen Rassimus und dulden keine Intoleranz. Wir bekennen uns zu unveräußerlichen Menschenrechten, wie das Recht auf freie Meinung, Pressefreiheit und ein Mindestmaß an sozialer Absicherung. Wir wollen eine starke Zivilgemeinschaft, die sich einmischt, denn wir wollen eine starke Demokratie. Und vor allem müssen wir darüber diskutieren, wie wir zu einer gerechteren Wirtschaftsordnung kommen können. Dafür müssen wir nun werben.

Zuerst in der eigenen Bevölkerung und dann weltweit, denn nur so kann man kann der Westen aus seiner politischen Verunsicherung wieder herausfinden.

„Nie wieder Auschwitz“ als Leitmotiv politischen Handelns

Wenn wir also jetzt festgestellt haben, was der gesellschaftliche Konsens ist, auf den wir hinarbeiten, wie sollte sich der Westen denjenigen gegenüber verhalten, die diesen Konsens ablehnen? Grundsätzlich gibt es dafür kein Allheilmittel, keinen politischen Leitfaden, dafür sind die weltweiten Konflikte einfach zu unterschiedlich.
Zunächst sollte festgehalten werden, dass Bundespräsident Gauck Recht hat, wenn er mehr Verantwortung von Deutschland auf der weltpolitischen Bühne fordert. Europa darf nicht die Augen verschließen, wenn an seinen Grenzen (und auch darüberhinaus) Recht gebrochen
und ein Wertekanon, der die westliche Welt auszeichnen, dauerhaft verletzt wird. Zugespitzt muss die Frage der europäischen Außenpolitik also lauten: Ist die Lehre aus unserer Geschichte „Nie wieder Krieg“ oder „Nie wieder Auswitz“?

 

Jannes Tilicke ist 23 Jahre alt und studiert Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Bielefeld

Sein Beitrag ist eine Antwort auf eine Diskussion im Pinguin. Hier die bisherigen Texte:

„The clash of civilizations – Huntingtons sozial konstruierter Kampf der Kulturen“ von Christoph O. King

„IS-Konflikt: Kein ‚Kampf der Kulturen‘, sondern global befeuerter Regionalkonflikt“ von Felix Eggersglüß

„Die Krise der außenpolitischen Alternativlosigkeit“ von Micha Heitkamp

Foto: Andreas Hermsdorf  / pixelio.de

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